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Diversity-Infothek

 

Karin Schuster

Karin Schuster ist Politikwissenschaftlerin und Diversity-Beraterin. Sie koordiniert das Mentoring-Projekt der Hochschule Esslingen und arbeitet freiberuflich an Schnittstellen von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Schwerpunkte: Politics of Diversity, Antidiskriminierung und Diversity, Diversity Ma-nagement in der Personalentwicklung, Diversity Mentoring

idm-Mitglied seit 2009

Bundesverfassungsgericht zwingt zum Aufbruch - Diversity als Chance für Hartz IV-Reform?

von Karin Schuster

 

Mediale Inszenierungen von Hartz IV-Beziehenden als arbeitsunwillige und in großem Stil missbräuchlich Leistungen nutzende Menschen verweisen Zugehörige dieser Gruppe auf einen Platz in unserer Gesellschaft, der mit geringer Wertschätzung verbunden ist. Obwohl Hartz IV mitnichten ein Leistungssystem für Langzeiterwerbslose ist, nicht einmal nur für Erwerbslose, sondern vielfach für Working Poor und Erwerbslose ohne Anspruch auf (existenzsichernde) Versicherungsleistungen sowie ihre Familien.

Derzeit steht das Arbeitslosengeld II, bekannt als "Hartz IV", im Mittelpunkt zahlreicher kontroverser Debatten, da das Bundesverfassungsgericht sowohl das Kernstück der Hartz IV-Reform, die Arbeitsgemeinschaften der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Argen) aus kommunalen Trägern und Bundesagentur für Arbeit(1), als auch die Berechnung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt hat. Die Regelleistung zum Lebensunterhalt sowie Leistungen zur Eingliederung in Arbeit werden von der Bundesagentur für Arbeit erbracht, für Unterkunft und Heizung sowie sozialflankierende Leistungen sind die Kommunen zuständig. Bislang nehmen die beiden Träger ihre Aufgaben überwiegend gemeinsam in Argen und Jobcentern wahr. Mit der Konstitution der Argen wurden Verwaltungskompetenzen von Bund und Kommunen unzulässig miteinander verzahnt. Dem Gesetzgeber wurde nun aufgetragen, bis Ende 2010 eine verfassungskonforme Struktur der Arbeits- und Sozialverwaltung zu gestalten.

In der vergangenen Legislaturperiode war das Konzept der "Zentren für Arbeit und Grundsicherung" erarbeitet worden, welches, nach einer geplanten Grundgesetzänderung, die bishe-rige Art der Kooperation hätte fortbestehen lassen sollen. Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt es nun, es werde "eine verfassungsfeste Lösung ohne Änderung des Grundgesetzes und ohne Änderungen der Finanzbeziehungen" angestrebt. Bundesagentur für Arbeit und Kommunen sollen ihre Aufgaben getrennt wahrnehmen, die Bundesagentur den Kommunen "attraktive Angebote zur freiwilligen Zusammenarbeit" unterbreiten. Zudem gibt es Initiativen, die eine alleinige Aufgabenwahrnehmung der Bundesagentur für Arbeit oder der Kommunen befürworten.

Unterdessen signalisieren insbesondere unionsgeführte Länder Zustimmung zu einer Verfassungsänderung, soweit das Arge-Modell damit gesichert würde. Auch die SPD zeigt sich verhandlungsbereit. Für eine Änderung der Verfassung benötigt die schwarz-gelbe Koalition in Bundestag und Bundesrat die Zustimmung der Sozialdemokraten.

Mit Tatendrang einerseits, mit Spannungen und Konflikten andererseits, ist der gegenwärtige Reformprozess verbunden, da er Fragen nach den Eigeninteressen der beteiligten Akteure berührt. Die derzeitigen Verhandlungen werden primär als Aushandlungsprozesse zwischen den (finanziellen) Interessen von Bund, Ländern, Kommunen und Parteien geführt und medial inszeniert. Die größte Gruppe beteiligter Akteure sind hingegen die Leistungsbeziehenden, die Kundinnen und Kunden der Argen.

 

Umsetzung des SGB II in den Argen - Einblicke in die Zusammenarbeit von Erwerbslosen und Fallmanagern

Die Arbeit in Argen und Jobcentern zielt auf ein möglichst zeitnahes Ausscheiden der "Kundinnen und Kunden" aus dem Leistungsbezug. Damit sind die arbeitsmarktpolitischen Interventionen des SGB II im Vergleich zum Bundessozialhilfegesetz wesentlich stärker auf eine unmittelbare Integration Erwerbsloser in den Ersten Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung individueller Lebensentwürfe ausgerichtet.(2) Individuelle Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sollen gemeinsam mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen durch individuelle Beratung eine Strategie zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt entwickeln. Gleichzeitig unterliegt die Umsetzung des SGB II dem Prinzip "Fordern und Fördern" und schließt eine einseitige existenzbedrohende Sanktionsgewalt ein.

Kulturelle, personale und soziale Unterschiedlichkeit prägen den Alltag in Argen und Jobcentern. Mit der Unterzeichnung der "Charta der Vielfalt" hat auch die Bundesagentur für Arbeit ein grundlegendes Bekenntnis zur Anerkennung und Wertschätzung dieser Vielfalt abgelegt. Doch auf welche Weise setzt sie eine Politik der Vielfalt um und wie gestaltet sich dies in der täglichen Praxis in Argen und Jobcentern? Anhand des Zugangs zu Integrationsleistungen nach dem SGB II soll dieser Frage nachgegangen werden. Erfahrungen von Leistungsbeziehenden deuten daraufhin, dass Ressourcen abhängig von der Bewertung persönlicher Merkmale ungleich verteilt werden. So bleiben vielfältige Potentiale unerkannt und somit ungenutzt.

 

Zugang zu Integrationsleistungen nach dem SGB II

Erwerbslose und Fallmanager verbindet ein wesentlich von professionellen Beratungsstandards abweichendes Arbeitsbündnis: Ihre Beziehung basiert nicht auf Freiwilligkeit, sie soll ein extern vorgegebenes Ziel verfolgen und schließt eine einseitige Sanktionsgewalt ein. Um schnellstmöglich einen Übergang Erwerbsloser in ein Beschäftigungsverhältnis mit einem Tätigkeitsumfang von mindestens 15 Wochenstunden zu erreichen - ab dieser Grenze gelten sie statistisch nicht mehr als Arbeitslose, sondern als Arbeitssuchende - , steht ein breites Repertoire arbeitsmarktpolitischer Instrumente zur Verfügung. Wie gestaltet sich nun der Zugang zu Bildungsgutscheinen, Trainingsmaßnahmen, Kombilohn und Ein-Euro-Jobs?

Erste Hinweise ergibt ein Blick auf die Zusammenarbeit von Erwerbslosen und Fallma-nagern, in der Grundlagen für den Zugang zu Integrationsleistungen erarbeitet werden. Informationen und Eindrücke zur sozialen und arbeitsmarktrelevanten Situation der Leistungsbeziehenden werden erhoben und im Vermittlungs-, Beratungs- und Informationssystem der Arbeitsagentur (VerBIS) erfasst. Auf dieser Basis erfolgt eine Chancen-Prognose im Hinblick auf die Integration in Arbeit, die sich an der Verwertbarkeit Erwerbsloser im Hinblick auf vermutete Wünsche potentieller Arbeitgeber orientiert.(3) Dieses sogenannte "Profiling" dient der Diagnose individueller Stärken, Schwächen und Chancen. Gleichzeitig wird es zur Kundensegmentierung und Ressourcenallokation genutzt: Arbeitssuchende werden anhand ihrer prognostizierten Chancen am Arbeitsmarkt gruppiert, um ihnen anschließend nach intern festgelegten Handlungsstrategien Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Mit Hilfe des sogenannten "Vier Phasen-Modells", welches sowohl so genannte marktnahe als auch komplexe Profillagen umfasst und automatisch entsprechende Handlungsstrategien vorschlägt, wird die Entwicklung ALG II-Beziehender von der Ar-beitslosigkeit bis zur existenzsichernden Integration in Erwerbsarbeit nachgezeichnet. Die Zuordnung erwerbsfähiger Hilfebedürftiger zu einer Kundengruppe und somit die Steuerung gesetzlicher Leistungen stützen sich wesentlich auf Vermutungen der Fall-manager, wann und wie eine Kundin oder ein Kunde in Erwerbsarbeit integrierbar sein könnte.

 

Individuelle Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster von Fallmanagern beeinflussen Zugang zu Ressourcen

Beispiele zeigen, dass Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster der Fallmanager den Zugang zu Ressourcen und damit gleichzeitig individuelle Entwicklungschancen Arbeitssuchender beeinflussen.

Sabine M., 35, soll, weil das Einkommen ihres Mannes die Existenz der Familie nicht sichert, einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Nach dem Hauptschulabschluss hatte sie eine Ausbildung begonnen, diese aber nach der Geburt eines Kindes nicht fortgeführt, um sich ausschließlich um Kindererziehung und Haushalt zu widmen. Ihre letzte Erwerbstätigkeit liegt acht Jahre zurück.

In diesem konkreten Fall bietet die Software VerBIS lediglich die Möglichkeit, Schulabschluss, nicht abgeschlossene Ausbildung sowie einige als Hausfrau und Mutter erworbene Fähigkeiten zu erfassen, z.B. sanitäre Einrichtungen reinigen, spülen und Kinderbetreuung. Langjähriges unbezahltes Haushalts- und Familienmanagement ist nicht in seiner Komplexität abbildbar. Raumpflegerin oder Küchenhilfe können auf der Basis dieses Profils als berufliche Perspektive für die Kundin ermittelt werden.

Mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II greift das Konzept der Bedarfsgemeinschaft, durch das Ansprüche aufgrund der Anrechnung von Partnereinkommen reduziert werden oder entfallen. Dies betrifft überproportional Frauen, die angesichts besserer Erwerbsintegration von Männern wesentlich häufiger auf das Einkommen ihres Partners verwiesen werden. Hinter scheinbar neutralen Regelungen kann sich außerdem eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts verbergen, ein Beispiel hierfür ist die geschlechterdifferenzierende Vermittlung von Tätigkeiten. Zudem benötigen Berufsrückkehrerinnen Zeit für Orientierung und Qualifizierung, die das auf unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gerichtete SGB II ihnen nicht einräumt. Da der Status im Erwerbsleben in die sozialen Sicherungssysteme hinein verlängert wird, schlagen sich Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern einhergehend mit kürzeren Erwerbsarbeitszeiten aufgrund der Übernahme unbezahlter Reproduktionsarbeit in geringerer sozialer Sicherung im Falle von Erwerbslosigkeit nieder. Dies alles trägt zu einer Verfestigung der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes bei.

Ein 52-jähriger Handwerksmeister verlor wegen Insolvenz des Betriebes seinen Arbeits-platz. Er verfügt über langjährige Berufserfahrungen, ist bundesweit umzugsbereit und steht auch einem Umzug ins englisch- oder französischsprachige Ausland offen gegen-über, da er beide Sprachen spricht. Derzeit bewirbt er sich engagiert auf ausgeschrie-bene Stellen. Bei der Formulierung schriftlicher Bewerbungsunterlagen in deutscher Sprache benötigt er etwas Unterstützung.

Handwerkliche und kaufmännische Fähigkeiten lassen sich weitgehend in VerBIS abbilden, muttersprachliche Kenntnisse hingegen nicht, da sich alle Sprachen außer der deutschen in der Rubrik "Fremdsprachen" finden. Das Profil des Mannes dokumentiert ausschließlich seinen beruflichen Werdegang in Deutschland, obwohl er im Ausland einen (in Deutschland anerkannten) Ausbildungsabschluss und fast zehnjährige Berufspraxis erworben hat. Außerdem wird der Kunde als besonders "integrationsfern" gekennzeichnet und einem komplexen Unterstützungsprofil zugeordnet, da er aufgrund seiner Hautfarbe nicht in Beschäftigungsverhältnisse mit Kundenkontakt vermittelt werden könne.

Oftmals steht die Bewertung der Fähigkeiten von Erwerbslosen in einem Zusammen-hang mit deren deutschen Sprachkompetenzen. Nicht fließend in deutscher Sprache kommunizierenden Menschen werden häufig geringe Fähigkeiten zugetraut, und sie selbst sind nicht ohne weiteres in der Lage, ihre Erfahrungen, Fähigkeiten und beruflichen Ziele zu artikulieren. Zur Unterstützung der Zusammenarbeit kann ein Dolmetscher hinzugezogen werden, in der Praxis wird davon selten Gebrauch gemacht. Auch ein fortgeschrittenes Lebensalter schlägt sich bei der Zuordnung zu einer Kundengruppe im Rahmen des Vier-Phasen-Modells nieder, für den Zugang zu einigen Eingliederungsleistungen sind Altersgrenzen vorgesehen. Vorbehalte sind häufig gegenüber nicht in Deutschland erworbener Berufspraxis zu beobachten. Obwohl Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wesentlich schlechter als die Vergleichsgruppe mit deutschem Pass in den Arbeitsmarkt integriert sind, können Berufserfahrungen von Erwerbslosen mit Migrationshintergrund nur in geringem Umfang mit Hilfe von Qualifizierungsmaßnahmen für den hiesigen Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden, da eine möglichst unmittelbare Arbeitsaufnahme Vorrang hat.(4)

Jennifer H. sucht seit zwei Jahren vergeblich einen Ausbildungsplatz. Sie ist lernbehin-dert und hat eine Förderschule mit hervorragenden Noten abgeschlossen. Um die Zeit bis zum Beginn einer Ausbildung zu überbrücken und Einblicke in verschiedene Berufsfelder zu erhalten, hat sie Praktika absolviert und stellte fest, dass die Bereiche Altenpflege und Hauswirtschaft interessant für sie sind.

Im Rahmen der Praktika erworbene hauswirtschaftliche Fähigkeiten lassen sich recht detailliert in VerBIS abbilden, jedoch nicht der Abschluss der Förderschule. Einzige mögliche Angabe ist "kein Schulabschluss". Diese Kundin wurde wegen ihrer Behinderung auf die Gruppe der besonders Integrationsfernen verwiesen. In ihrem Profil findet sich zudem kein Verweis darauf, dass sie als lernbehinderte Ausbildungsuchende Schwerbehinderten gleichgestellt ist. Dies würde den Zugang zu besonderen Fördermöglichkeiten eröffnen, z.B. speziellen Ausbildungsangeboten für lernbehinderte Menschen.

Spezifische Fördermöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen sind in der Praxis wenig bekannt oder werden erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung eingeleitet, obgleich der Gesetzgeber die Notwendigkeit der beruflichen (Wieder-) Eingliederung von Menschen mit Behinderungen fortwährend betont. Insbesondere die Integrationsfachdienste beraten behinderte Menschen bei Fragen des Zu-gangs zum Arbeitsmarkt.

Diese exemplarischen Einblicke zeigen, dass umfangreiche Potentiale und Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, obwohl personale, soziale und kulturelle Vielfalt täglich in Argen und Jobcentern zu erleben ist und Irritation erzeugt. Kompetenzen und Erfahrungen Arbeitssuchender werden von in einem Spannungsfeld von Kontrolle und individuellem Fallverstehen agierenden Fallmanagern unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Für einen individuellen Beratungs- und Integrationsprozess notwendige zeitliche und personelle Ressourcen stehen nicht zur Verfügung.(5)(6) Insofern kann die für den Zugang zu Integrationsleistungen relevante Zuordnung zu einer Kundengruppe auch von Fragen nach dem daraus resultierenden Arbeitsaufwand oder Auswirkungen auf regelmäßig zu veröffentlichende Statistiken geleitet sein.

Unzureichende Möglichkeiten des Vermittlungs-, Beratungs- und Informationssystems, diskriminierende Bewertungen sowie strukturell verankerte Möglichkeiten der Ungleichbehandlung und Hierarchisierung aufgrund persönlicher Merkmale nehmen nicht nur Einfluss auf den Zugang zu Integrationsleistungen, sondern können auch zur Grundlage (sanktionsbewehrter) Forderungen an Erwerbslose werden. Strukturen und standardisierte Instrumente zur Umsetzung des SGB II bergen insofern Diskriminierungsrisiken im Hinblick auf die Verteilung von Ressourcen in sich. Obwohl die Sozialgesetzgebung eine Gewährung gesetzlich verankerter Leistungen abhängig von den prognostizierten Chancen der Beziehenden am Arbeitsmarkt nicht vorsieht, werden Ressourcen in erheblichem Umfang so genannten "marktnahen" Kundinnen und Kunden zur Verfügung gestellt, jene mit geringen Chancen am Arbeitsmarkt oder erheblichem Unterstützungsbedarf werden auf ihre individuelle Initiative und Verantwortung verwiesen oder verpflichtetet, ihre Arbeitskraft im Rahmen von Ein-Euro-Jobs einzusetzen. Durch die vollständige Einbindung der Argen in die IT-Landschaft der Bundesagentur für Arbeit wurden Prozesse immer stärker standardisiert und auf die Verfahrenslogik der Bundesagentur ausgerichtet, ohne dass die Argen vor Ort noch Einfluss darauf hätten. Im operativen Bereich der Leistungserbringung zeigt sich bislang keine konkrete Umsetzung der Selbstverpflichtung zur Wertschätzung und Förderung von Vielfalt, wie sie die Bundesagentur für Arbeit mit der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt formuliert hat.

 

Diversity als Chance für arbeitsmarktpolitische Reformen

Ein tiefgreifender Wandel von Erwerbsarbeit äußert sich im Entstehen vielfältiger Arbeits- und Lebensmodelle, das so genannte Normalarbeitsverhältnis als bisherige Standardnorm von Erwerbstätigkeit hingegen löst sich auf. An uneingeschränkter "Marktfähigkeit" von Erwerbs-Arbeitskraft orientierte Handlungsstrategien von Argen und Jobcentern sind funktional eine systematische Ausgrenzung unbezahlter Reproduktionsarbeit und bürgerschaftlichen Engagements. Nicht nur die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch demographischer Wandel, zunehmendes Streben von Frauen nach Erwerbsbeteiligung, ethnisch-kulturelle Vielfalt sowie die "Rente mit 67" bei gleichzeitiger Klage über zunehmenden Fachkräftemangel erfordern eine Veränderung arbeitsmarktpolitischer Strukturen und Instrumente, auch um erhebliche ökonomische Nachteile zu vermeiden.

An Defiziten ansetzende arbeitsmarktpolitische Interventionen entfalten häufig keine oder eine geringe Wirkung. Der Diversity-Ansatz kann Veränderungspotentiale für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik aufzeigen, weil er zielgruppenübergreifend ist. Er öffnet den Blick auf die Vielfalt und Mehrdeutigkeit von Erfahrungen und Kompetenzen aller am System Arbeitsmarkt beteiligter Akteure. Vielfalt im Sinne des Diversity-Konzeptes umfasst die von den EU-Gleichbehandlungsrichtlinien sowie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz(7) geschützten Merkmale. Der Ansatz geht allerdings darüber hinaus, indem er nicht allein auf ein Vermeiden von Ungleichbehandlungen und Hierarchisierungen aufgrund persönlicher Merkmale zielt, sondern auf eine positive Wendung des Antidiskriminierungsauftrages hin zu einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt.

 

Vielfalt bei Trägern der Grundsicherung

Verschiedenheit und Komplexität sind keine Störung, sie sind alltäglich in Argen und Jobcentern. Eine Arbeitsmarkt-Politik der Vielfalt impliziert deshalb Diversity als Querschnittsaufgabe. Sie richtet ihren Blick sowohl auf differenzierende Unterschiede als auch auf verbindende Gemeinsamkeiten. Im Prozess des Unterscheidens und Bewertens dient Wahrnehmung zunächst der Orientierung und Strukturierung. Doch vor dem Hintergrund des Zugangs zu Integrationsleistungen in Zeiten hoher Erwerbslosigkeit und verstärkter Konkurrenz in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes stellt sich die Frage, welche Funktion eine Abgrenzung von Kundengruppen auch aufgrund persönlicher Merkmale erfüllt. Welche Muster werden in der täglichen Praxis von Argen und Jobcentern kommuniziert und reproduziert, und zur Stabilisierung welcher Positionen und Privilegien trägt dies bei? Zahlreiche Beschäftigte in Argen und Jobcentern sind zeitlich befristet beschäftigt und befürchten, irgendwann auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz nehmen zu müssen. Gegenwärtig impliziert die Unterscheidung erwerbstätig vs. nicht-erwerbstätig eine bedeutende Bewertung, aber welche Formen von Arbeit sind für unsere Gesellschaft notwendig, und wie können sie gelingend und gestaltet werden? Die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes bieten aktuellen Anlass für die Initiierung von Lernprozessen. "Im Diversity-Lernen geht es um das Initiieren von Irritation: Bisherige Verhaltens- und Erlebensweisen werden aus ihrer gewohnten Wahrnehmung gelöst und mit neuen bzw. (...) nicht wahrgenommenen Wirklichkeiten konfrontiert."(8) Der Blick richtet sich sowohl auf differenzierende Unterschiede als auch auf verbindende Gemeinsamkeiten und fragt nach der Wahrnehmung und Bewertung von Unterschieden und die damit verbundenen Praxen des Einschließens und Ausschließens vor dem Hintergrund spezifischer Interessen- und Machtstrukturen. Durch das Bewusst-Machen von Strukturen und Verhaltensmustern schärft eine solche Perspektive das Bewusstsein für die Akzeptanz und Nutzung vielfältiger Bedürfnisse und Potentiale.

Die Bundesagentur für Arbeit steht vor einem grundlegenden Paradigmenwechsel, verbunden mit langfristigen Lernprozessen, wenn ihr Bekenntnis zur Wertschätzung, Förderung und Nutzung von Vielfalt und damit zugleich zur Ablehnung direkter und indirekter Diskriminierung sich auch zu einem prägenden Merkmal der Praxis von Trägern der Grundsicherung entwickeln soll.

 

Bundesverfassungsgericht gibt Anlass zum Lernen

Neben fiskalischen und machtpolitischen Interessen fließen auch bisherige Erfahrungen sowohl in die Gestaltung einer neuen Organisationsform für die Grundsicherung für Arbeitssuchende als auch in die strategische Ausrichtung und den operativen Bereich ein. Kundinnen und Kunden der Argen verfügen über umfangreiche Erfahrungen mit der Leistungserbringung im Rahmen dieser Organisationsform. Als Expertinnen und Experten ihrer Lebenslage fordern sie eine Dienstleistungserbringung ein, die sich an ihren vielfältigen und dynamischen Lebens-, Arbeits- und Erwerbsarbeitsmustern orientiert. Zahlreiche Erwerbsloseninitiativen, Sozialverbände und Gewerkschaften sowie der Deutsche Städtetag lehnen deshalb eine getrennte Aufgabenwahrnehmung von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen ab und fordern ausdrücklich eine Aufgabenerbringung "aus einer Hand". Eine getrennte Aufgabenwahrnehmung gehe mit wachsendem bürokratischen Aufwand, völliger Offenlegung der persönlichen Lebenssituation bei zwei Behörden, rechtlicher Unsicherheit und Erschwernissen bei der Durchsetzung von Rechten einher, stellt das Erwerbslosenforum Deutschland e. V. fest.(9)

Eine besondere Herausforderung wird es sein, die bisherigen Leistungen in einem zielgruppenübergreifenden Konzept und organisatorischen Rahmen zusammenzuführen, welche sich nicht an angenommenen Defiziten der ALG II-Beziehenden orientieren, sondern vielfältige Erfahrungen, Kompetenzen und Ziele als wertvolle Potentiale berücksichtigen. Ein solcher Ansatz schließt die Frage ein, wem, warum, und wie welche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

Mit der Unterzeichnung der "Charta der Vielfalt" hat die Bundesagentur für Arbeit ein grundlegendes Bekenntnis zur Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt abgelegt. Die Idee, dass die Organisation ihren gesetzlichen Auftrag umfassender erfüllen könnte, sofern ihre Beschäftigten die Gesellschaft repräsentativ abbildeten, schlägt sich bereits in Personalrekrutierungs- und -entwicklungsstrategien der Bundesagentur für Arbeit nieder. Strukturen zur Umsetzung einer Diversity-Politik im exekutiven Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurden hingegen bislang nicht etabliert. Arbeitsmarktpolitik ist gegenwärtig auf die Frage fokussiert, was getan werden müsse, um Leistungsbeziehende zu motivieren und unmittelbar in Erwerbsarbeit zu integrieren. Ergänzend dazu kann aus der Perspektive einer Diversity-Politik die Frage aufgeworfen werden, wie Strukturen gestaltet werden können, die Veränderungen aufgrund eines tiefgreifenden Wandelns von Erwerbsarbeit sowie vielfältige Lebens- und Arbeitsmuster der Kundinnen und Kunden berücksichtigen und darüber hinaus die Notwendigkeit vielfältiger Formen von Arbeit für unsere Gesellschaft sichtbar werden lassen. Gerade in Veränderungsphasen regen Diversity-Konzepte erforderliche Lernprozesse an und können einen Beitrag dazu leisten, die Qualität der Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Grundsicherung zu verbessern, indem Organisationsstruktur und Dienstleistungsangebot auf eine möglichst große Affinität zu den Erwartungen der Kundinnen und Kunden ausgerichtet werden. Auch in ökonomischer Sicht vermag ein zielgruppenübergreifender Ansatz, der Potenziale sichtbar werden lässt und Kosten von Diskriminierung vermeidet, positive Wirkungen zu entfalten. Ob die Perspektive einer Arbeitsmarkt-Politik-der-Vielfalt im Kontext der aktuellen Aushandlungsprozesse Wirkungsmacht entfaltet und in der Bereitschaft mündet, Ressourcen in diesem Sinne zu nutzen, ist allerdings fraglich.

 

Endnoten:

(1) Arbeitsgemeinschaften gemäß § 44b SGB II widersprechen dem Grundsatz eigen-verantwortlicher Aufgabenwahrnehmung der Kommunen.

(2) Nach § 3 SGB II wird der Arbeitsaufnahme und der Beendigung des Leistungsbe-zugs der unbedingte Vorrang vor anderen Zielen eingeräumt. Nach § 10 Abs.1 SGB II ist jede Arbeit zumutbar. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit haben Vorrang vor Leistungen zum Lebensunterhalt.

(3) Standort und Prognose orientieren sich an der Frage, ob gezielte Adressierung ver-mittlungsrelevanter Handlungsbedarfe mit Förderung oder Forderung eine Integration in Erwerbsarbeit in max. 12 Monaten erreicht werden kann.

(4) Frings, Dorothee: Arbeitsmarktintegration - Chancen und Risiken für Migrantinnen

(5) Ames, Anne: Arbeitssituation und Rollenverständnis der persönlichen Ansprechpartner/innen nach § 14 SGB II, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/show_project_fofoe.html?projectfile=S-2007-982-4.xml

(6) Die praktische Umsetzung ist selbst von dem angestrebten Personalschlüssel von 1:75 im Verhältnis von Fallmanager zu Kunden oftmals weit entfernt.

(7) Merx, Andreas/Vassilopolou, Joana: Das arbeitsrechtliche AGG und Diversity-Perspektiven, in: Bruchhagen, Verena/Koall, Iris (Hg.): Diversity Outlooks. Managing Diversity zwischen Ethik, Politik und Antidiskri-minierung, Münster 2007.

(8) Bruchhagen, Verena: Diversity-Lernen: Anforderungen und ZuMutungen im Umgang mit Komplexität, Vortrag vom 12.05.2006 in Wien, abrufbar unter: www.gender-diversity.net/TCgi_Images/20060516194227_1.ppt

(9) Stellungnahme des Erwerbslosenforum Deutschland e. V. vom 06.01.2010: http://www.erwerbslosenforum.de/nachrichten/6_062010060106_364_3.htm

 

 

Dieser Beitrag stellt eine aktualisierte Version eines zunächst im Rahmen des Online-Dossiers "Politics of Diversity" der Themenwebsite Migration-Integration-Diversity erstellten Beitrags dar. Wir danken der Redaktion der Heinrich-Böll-Stiftung für die Freigabe des Beitrags.

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